Das Publikum und die Rollen

Geschichten wollen erzählt und gehört werden. Sie ähneln Aufführungen, Theaterstücken, Filmen. In unseren Geschichten haben wir bestimmte Rollen, die wir einnehmen. Manche fordern diese Rollen sogar ein, die Geschichten selbst und die Zuhörenden. Wenn ich beispielsweise die Geschichte von mir als Abenteurerin erzähle, dann wollen die anderen auch eine Abenteurerin erleben und nicht eine, die regenscheu ist und nur auf der Couch liegt. Wir können schauen, wer gerade welche Rolle einnimmt. 

Alle haben wir ein bestimmtes Publikum und bestimmte Bühnen, je nach Lebenszusammenhang. Je nach Bühne können die Geschichten schon mal variieren. Die verschiedenen Bühnen können das Zuhause sein, Treffpunkte, Cafés, Arbeitsplätze, die Medien, die politische Bühne, die Natur und so weiter. Ebenso ist es mit dem Publikum. Das könnten unsere Liebsten sein, die Familie, Schülerinnen, Vorgesetzte, das Volk, die Presse und so weiter.

Sehr spannend ist das unsichtbare Publikum. Es beobachtet uns. Das ist eventuell eine verstorbene Mutter, eine Gottheit, die Spirits oder wer sonst so in den Rängen des unsichtbaren Publikums sitzt. In meinen jungen buddhistischen Jahren war das eine Zeit lang die Tara. Ich habe mir damals überlegt, wie sie mein „Stück“ und mich in meiner Rolle wohl findet. Das war recht hinderlich. Dann habe ich sie aus dem Publikumsraum entfernt. Nein, sie war nicht sauer. Sie ist ja auch nicht von sich aus drin gewesen, sondern weil ich sie dort hinein gesetzt habe. Seitdem hat sich mein Verhältnis zu ihr sehr verbessert.
Das Design unserer Rolle wandelt sich gewaltig, wenn wir uns vom unsichtbaren Publikum lösen. Eine spirituelle Verwandlung wird sich einstellen, wenn wir die Rolle ändern, die wir für unser spirituelles Publikum spielen.

Die Geschichten und die Rollen hängen eng zusammen. Deshalb ist es auch wichtig, dass die Gemeinschaft eine Veränderung bezeugt. Dann kann es frei werden. Wenn ich auf einmal keine Heilige mehr bin, dann müssen es meine Leute doch wissen. Dafür gibt es noch mal eine Aufführung, einen Abgesang, mein Publikum wohnt dem bei und erfährt auch wie die neue Rolle samt Geschichte geplant ist. Vielleicht bekommen sie bereits eine Kostprobe des Neuen. Manche Zeiten brauchen neue Rollen.

neue Rollen in überarbeiteten Bildern aus alten Filmen

Gut ist es natürlich, wenn die Rolle zu mir passt, wenn sie authentisch ist – die Rolle, der Text, die Kostüme. Lebensgeschichten wollen eine Übereinstimmung von Rolle, Text, Kostüm, Performance, Aufführungsort. Wollte ich die Erbsenprinzessin spielen, würde es mir eh niemand abnehmen. Die gegenseitig geteilten Geschichten spiegeln sich in einem Publikum, von dem wir uns wünschen, dass es anerkennend ist. Da gibt es Erwartungen und die Frage, was passt. Wenn die Geschichtenheilenden oder wir selbst an neuen Geschichten weben, dann wird es darum gehen, was dem eigenen Wesen wirklich entspricht, was übereinstimmt mit unserer Verfassung, unserem Sein, wo sich jemand wirklich authentisch und zu Hause fühlt. Das Publikum im Blick zu haben ist nie schlecht, samt der Freiheit, es aus- oder einzuladen. Neue Geschichten mit den neuen Rollen könnten nämlich einen Publikumsaustausch mit sich bringen.
Vielleicht bietet sich die aktuelle Situation an für einen Rollen-Check.

Von einer, die sich neu einfindet
Da ist eine ältere Frau, der man zutraut besonnen zu sein, entspannt und vielleicht sogar mit klugen Antworten zwischendurch. Es könnte ein Improtheater sein. Sie bekommt aus dem Publikumsraum Fragen und Sätze zugeworfen und dann – macht sie lauter Zeug, das so gar nicht ins Raster passt. Sie ist knatschig, dann sagt sie wieder gar nichts und verweigert sich, dann wird sie auf einmal recht „anti“ und gar nicht humorvoll. Es irritiert. 

Sie sucht sich auch neue Mitspielerinnen, mit denen niemand gerechnet hätte. Sie hat sich schwarz-weiß gekleidet mit wenigen bunten Tupfern – auch noch ein ungewohntes Kostüm – redet recht widerborstig und erzählt dauernd was von ihrer Freundschaft, die sie pflegen möchte, zur Freiheit und zum Tod. Trotz Ausgangssperre besuchen die beiden sie dauernd und dann sitzen sie beisammen und essen und trinken Wein. Sie scheißen sich zu wenig, so finden einige aus dem Publikum. Gerade jetzt, wo nicht nur die Frau, sondern auch die beiden anderen nicht gefragt sind. Die eine sollte stillhalten und vor der anderen hat man Angst. Nichts passt mehr, das Stück und die Rolle und überhaupt.

Für wen steht denn der vierte Teller auf dem Tisch? Doch nicht etwa …? Das wäre ja der Gipfel. Es ist tatsächlich so, sie wollen MIT xy leben.

Sie machen auch Witze, sie suchen sie und erzählen sie weiter und behaupten, dass das wichtig wäre, gerade jetzt. Überraschungsangriff, die Angst liegt noch im Bett. „Hände hoch, oder ich niese!“ Da können sie richtig lachen. Der Angst Angst machen, zum Antidotieren. 

Es ist eine wichtige Aufführung. Die Rolle ist sperriger, zorniger, konträrer, die Spielregeln öfter aufkündigend. Ein bisschen was von dieser Rolle hatte die Frau vor langer Zeit, anders gefärbt weil jünger, aber vergleichbar. Auch damals fanden etliche sie anstrengend, aber da wusste man es, die Rolle war eingeführt. Jetzt befremdet es erstmal und deshalb ist es gut, wenn es mitgeteilt wird.
Sie gibt eine Kostprobe. Sie redet davon, dass sie möchte, dass man sterben darf, das fände sie normal. Sie findet das, weil sie meint, sonst das Leben zu verlieren. Sie bleibt dabei, auch wenn es um sie ginge. Schließlich wisse sie ja nicht, wann die Tödin möchte, dass sie auf die Reise mitkommt, auf die ganz große Reise. Dann bräuchte es ja jemand, der die Türe hinüber öffnet. Wenn es xy wäre dann halt.

 

Sie ist auch recht züntig über die massive Dominanz von männlichen Experten und, dass sie noch weniger Frauen als sonst sieht, dort, wo die großen Entscheidungen gefällt werden. Sie mag nicht, dass man ihr droht und Angst machen will und dass damit so viel gearbeitet wird. Ihr fehlt ein Denken und Handeln das zyklisch, weiblich, uralte Lebensabläufe einbeziehend ist. Dann hätte der Tod einen ganz anderen Platz und die Leute ein anderes Verhältnis dazu.
Sie ist empört und wird auch des öfteren unflätig. Sie haut auf den Tisch, auch wenn es nicht viel bringt.

Um sie etwas runterzukochen, erzählt die Tödin eine Geschichte, die sehr sehr alt ist und die sich immer mal in neuem Gewand zeigt.

Sie erzählt über Zeiten, in denen es um wirklich große Schrumpfungen der Menschen ging, die dazugehören, die es immer gegeben hat. Also wirklich, nicht nur so getan als ob. Einmal, vor langer, langer Zeit beispielsweise sei die Menschheit so geschrumpft, dass es nicht gewiss war, ob sie überleben würde. Ein Vulkanausbruch habe einen zehn Jahre andauernden Winter gebracht. Man stelle sich das vor, all das ohne Nudeln, nur Tiefkühlzeug. Das war ein Human Near-Extinction Event. Und das sei nur ein Beispiel.
Es ginge alles vorüber, sagt sie, die wirklichen Schreckensgeschehnisse genauso wie die künstlichen, die inszenierten, die halben, alle. Weil – nix is fix, zum Glück. Und dann, neues Spiel, neues Glück.

„Na gut“, sagt die Frau, „du hast mehr Erfahrung.“ Dann prosten sie sich zu und spielen Karten mit mehr Jokern als sonst üblich.