Der ganze Schnee ist wieder weggeschmolzen im frühlingshaften Tauwind. Weil ich die Jahreszeitenqualitäten verstehen und mich in der Tiefe verwettern will, mitgehen mit Wind und Sonne, dem Winter oder dem Winter-der-keiner-ist, frage ich genauer nach. Dieses Jahr geht es dauernd ums Schmelzen, Tauen. Was erzählt mir das Tauwetter, wie kann ich es verstehen, wie mich einfühlen? Ich untersuche die Schneehaufen, das Eis. Vieles wird sichtbar, was unter Eis und Schnee war. Es sieht oft nicht besonders schön aus, aufgeweicht, zerfallend, skelettiert.
Wörter hinterfragen. Wegschmelzen, dahinschmelzen, auftauen. Was in mir könnte schmelzen? Eis, Starre, festgefrorene Strukturen? Insgesamt ist es ja eine Zeit, in der erstarrte, nicht mehr tragende Strukturen zerbröseln, ins Wanken kommen oder, dass das, was ewig lange unter dem Eis begraben war, zum Vorschein kommt. Was liegt bei mir schon lange unter Eis und Schnee? Ich will dem Prozess des Schmelzens zuhören, dem Tropfen des Wassers, dem gläsernen Klang der Eiszapfen beim Tauen. Horchen, was mir die Klänge erzählen. Ein Grönlandschamane hat gesagt, „lasst das Eis in eueren Herzen schmelzen, dann brauchen es die Pole nicht für uns tun.“
So wird die Geschichte dieses Winters wieder ganz anders. Wenn ich die Kraft der Schneeschmelze nicht mit dem Frühling und seiner Dynamik verbinde, sondern mit der langsamen Weise des Winters, dann bin ich in der Winterweite angekommen und höre eine Winterbotschaft. Rückzug und Tauen, sanftes Schmelzen von Eisschichten, die Schneedecke und das Hervorholen von Darunterliegendem. Schneekristalle beobachten und Eis, wenn sie ins Fliessen kommen. Selbst ins winterliche Tiefenfliessen kommen. Wie kann das konkret aussehen, ohne in eine Frühlingsumtriebigkeit abzudriften? Ich weiß es nicht genau, etwas Neues, Fremdes ist dabei.
Die vielen Stürme dieses Jahr erzählen von Ähnlichem. Wind fegt übers Land, fegt weg, rüttelt. Was nicht standhalten kann, wird mitgenommen und zerlegt. Wie die nicht tragenden, nicht mehr stimmigen Strukturen. Auflösen, schmelzen, wegfegen. Es wird sichtbar. Was hält, was trägt, was nicht, was schmilzt leicht dahin? Wo ist was erstarrt? Ist das das große Thema, der Spiegel des Winters? Ich beginne, meine Eisschichten abzuklopfen.
Ich stelle mich in den Sturm, mit aller Bereitschaft des Häutens. Das nicht mehr Tragende dem Wind übergeben, spüren, wie es herausgezogen wird und noch nicht einmal wissen müssen, was genau es ist. Im Schamanischen braucht mein Verstand nicht alles verstehen. Ich übergebe, gebe mich hin, dem Prozess, dem Winter, gehe hinein.