Sie sind allgegenwärtig. Wir finden sie in Familien, Kulturen, Gemeinden, Städten, Ländern, bei Firmen und Einzelpersonen. Es scheint, als bräuchten Menschen Schöpfungsgeschichten, Geschichten über den Ursprung, Geschichten, die Antwort geben auf die Frage: „Wie hat etwas angefangen? Wie sind wir ins Leben gekommen? Wie sind wir xy geworden?“ Die großen Schöpfungsgeschichten wie die Bhagavad Gita, die der First Nations, die Genesis, die Edda und andere, sind erhellend, um zu verstehen, auf welcher Basis Gemeinschaften und Kulturen gründen.
Die persönlichen Schöpfungsgeschichten finde ich jedoch noch viel interessanter für Wachstum und Heilung. Was erzählt denn unsere Familie über unsere Geburt? Welche Geschichten – ernste, komische, peinliche, berührende – werden aus unserer Kindheit erzählt? Samt den Varianten, je nach Familienmitglied. Welche Geschichten erzählen wir selbst darüber, wie wir die geworden sind, die wir jetzt sind? Wie ist die Version für Menschen, die uns sehr nahe sind? Wie hört sich die Kurzversion an? Wie ist die bereinigte Version für das erste potenzielle Liebestreffen?
Auf den Heilwegen ist es hilfreich, sich auf den Ursprung einer Krankheit zu machen. Wie ist die Schöpfungsgeschichte der Krankheit, des Kraftverlustes, der Imbalance? Wie hat es angefangen, was war da? Was war kurz vorher? Menschen erzählen auch diesen Teil, den Anfang, wenn sie ihre Krankheitsgeschichte erzählen. Mit medizinischen Versionen muss das nicht übereinstimmen. Die Schöpfungsgeschichte einer Versehrtheit, einer Krankheit, zeigt bereits den Weg der Behandlung, der Heilung und ihre Wandlungswahrscheinlichkeit. GeschichtenheilerInnen lassen sich die Schöpfungsgeschichte der Krankheit erzählen, die jemand für sich hat, denn sie wissen, dass im Sprechen darüber bereits Heilkraft kreiert wird, ganz real. Schöpfungsgeschichten haben viel mit Verstehen und Bewusstwerdung zu tun. So wird es möglich, uns selbst auf eine heilsamere Weise neu zu erschaffen.
Geschichten können Nahrung und Medizin sein. Wir essen sie durch unsere Ohren. Im Verdauen verinnerlichen wir sie. Das ist die Geschichteneinverleibung. Im Erzählen, im Nacherzählen der eigenen Geschichte webt sich der Faden unseres Lebens in das große Gewebe ein. Es ist der Faden unserer Medizingaben- und Clanwege, unserer Bewusstseinsentwicklung, unserer Geburt, wie wir die geworden sind, die wir sind.
Wenn wir die Geschichte verändern, wird sich der Mensch verändern, der sie erzählt. Es ist ein gegenseitiges Erschaffen und Beeinflussen. Wenn ich meine persönlichen Schöpfungsgeschichten überdenke, vor allem die schwierigen, kraftraubenden, wenig lebensdienlichen, und sie verändere, dann kann sich die Geschichte im Ganzen ändern. Und damit ich mich. Das ist die Idee von Schöpfung. So arbeitet die narrative, die erzählende Heilkunst. Die Medizin in den Geschichten wird aufgespürt, die Antwort für eine Heilung. Sie liegt in den Einzelnen und ihren Geschichten. Die Krankheitsgeschichte selbst birgt die Diagnose samt der Medizin. Sie erzählt von verborgenen Kraftquellen. Sie offenbart Ressourcen und Talente. Sie gibt Antworten, die notwendig sind für Wachstum und Heilung.
Ich studiere die Historie schwieriger Geschichten. Dabei entdecke ich Wege, die ich bisher noch nicht gegangen bin, Alternativen, andere Lösungen an schwierigen Punkten. Das hilft mir, zu erkennen, wo Kraft ist, welche Haltung schwächend, lähmend ist. Dafür halte ich meine Spürnase in den Geschichtenwind. Das kann mich in eine neue Geschichte mit einer ganz anderen Zukunft führen.
Es gibt eine erhellende Schöpfungsgeschichte, es ist die meiner Singstimme und ihrer Versehrtheit. Meine Singstimme war lange Zeit unsicher, nicht in ihrer Kraft, nicht im Selbstverständnis, beschämt und teils enteignet. Meine Version des Ursprungs war die, dass meine Singstimme nicht besonders gut war und man mir das immer wieder vermittelt hat, von Anfang an. Als ich es überprüft habe, stellte sich heraus, dass es eine ganz andere Version gibt. Meine Mutter und alte Nachbarn haben mir erzählt, dass ich als kleines Mädchen mit meiner Freundin von Haus zu Haus gezogen bin, dass wir das Milky Way-Lied gesungen haben und dafür eine Marie wollten. Damit meinten wir das Fünfzig-Pfennig-Stück. Die Demeter darauf war für uns die Marie. Das hat mich sehr erstaunt. An diese Geschichte kann ich mich nicht erinnern. Damals war meine Singstimme also noch nicht beschämt. Sie hat mir sogar mein erstes Geld eingebracht. Die Geburt der Versehrtheit meiner Singstimme scheint zu einem ganz anderen Zeitpunkt geschehen zu sein, viel später als gedacht. Die Spur hat mich in Schulzeiten gebracht, ins Alter von neun oder zehn, in den Musikunterricht und den Chor. Das hat alles verändert. Wenn ich mich jetzt mit der Urstimme und der Milky-Way-Marien-Geschichte verbinde, dann spüre ich Leichtigkeit, das Lachen besucht mich und ein warmes Selbstverständnis im Singen ist da. Denn es ist meine Stimme, die beste, die ich habe. Ich höre sie gerne und singe – wieder.