Die Seiltänzerin

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Heute mal ein Gleichgewichtsthema, für Passagen, in denen es um den Tanz auf dem Hochseil geht, den Tanz auf der Haaresbreite oder auf Messers Schneide. Es ist der Tanz zwischen den Welten, den Polen, zwischen Tag und Nacht, zwischen unserer Freiheit und den Einschränkungen im sozialen Gefüge. Da gilt es, das Gleichgewicht zu halten zwischen Ordnung und Chaos.

Dummerweise tut das niemand für uns. In schamanischen Gesellschaften gab es dafür die autorisierten heiligen Clownleute, die Heyokas, Närrinnen, Trickster, die MeisterInnen der Unordnung. Sie waren zuständig dafür, zu schauen, dass die universellen, die sozialen, die individuellen Kräfte in Balance sind und im Zweifelsfall aufzuzeigen, wo es nicht so ist und dann Möglichkeiten zu haben, wieder in Balance zu kommen. In Ermangelung dieser Zuständigen tragen wir heute selbst die Verantwortung dafür. Einerseits blöd und auch wieder gut. Weil wir dann den Seiltanz lernen. Das ist ja eine schwierige Kunst, dieses sichere Gehen zwischen Struktur und Chaos, Geordnetem und Ungeordnetem. Das Gleichgewicht ist fragil. Das ist eine heikle Angelegenheit. Es braucht gutes Schuhwerk und das Wissen, wo ich gerade bin. Dann ganz den Moment packen. Vertrauen, dass die Welt nicht untergehen wird, wenn ich stolpere und falle. Fallend bin ich Teil der ewigen Erneuerung von Welt und Kosmos. Das ist eine Übung, mich und das Ganze nicht so ernst zu nehmen.

Was für ein Tanz! Der ewige Tanz zwischen Ordnung und Chaos, spüren, wie das Stabile wankt, ein Gegengewicht suchen, Contrary sein. Ordnungen werden gestört, dem Chaos Raum geben, das Unstete erforschen, die 13 begrüßen, die die 12 erneuert und sehen, wie sich aus dem Chaos etwas Neues gebiert, wie es sich wieder stabilisiert, ordnet. So lange, bis das Fremde wieder auftaucht und das Vertraute aufrüttelt, bis die Wildnis nach der Ordnung des Dorfes greift. Dann wird das Eindeutige widersprüchlich, dann zeigt das Weltgesetz seine Zerbrechlichkeit. Dann tanzen wir auf dem Hochseil über die Lücke, über den Spalt. Wenn wir hineinschauen, ist das Chaos in der Welt zu sehen. Es gehört zu uns. Gut, wenn wir das Balancieren zwischen den Welten oder über dem Spalt schon gelernt haben. („Chaos“, griech. „Spalt)

Ich bin nicht schwindelfrei, ich habe den Seiltanz nicht beigebracht bekommen. In meiner Schule gab es dafür keine Lehrkräfte. Workshops helfen nur bedingt weiter. Und, ich will auf dem Seil tanzen lernen. Ich ziehe meine Tracht an, mein Stammesgewand, damit mich das Universum zuordnen kann und ich beim Absturz wieder in Bayern lande. Dann balanciere ich, steigere die Höhen und den Schwierigkeitsgrad. Aus dem Chaosspalt heraus kann Gaia mir unter den Rock schauen. Das ist gut, vielleicht lacht sie.