In der Reise zur Närrin habe ich einen Text zu Geschichten und dem Verrücken geschrieben:
Wortströme, Werbetexte, Falschnachrichten, Gebrauchsanweisungen, Pin-Nummern, Formulare – manchmal ist es wie im strömenden Regen stehen. Es prasselt auf uns ein, schnell, immerzu strömend, bis man auf die Haut durchweicht und zugetextet ist. Es ist die tägliche Routinekost unserer Zeit. Da wäre eine Leerung wünschenswert. Papierkörbe bieten sich an, Wertstoffhöfe und Geister, welche den entleerten Raum bewohnen möchten. Vieles ist verrückt in unserer Zeit. In solchen Zeiten braucht es das Verrückte selbst, um dem gut zu begegnen. So wie nur die MeisterInnen der Unordnung mit den Pockengeistern verhandeln konnten, so können möglicherweise nur verrückte Geschichten den bedrohlichen Kräften dieser Zeit begegnen und sie in Balance bringen. Aber wirklich weiß ich das auch nicht. Weil ich keine anderen Antworten habe, fange ich damit an, mit den Geschichten zu spielen, sie freizugeben, zu erneuern, zu verrücken.
In Scheunenflohmärkten alte Bücher mitnehmen, sie entleeren und neu befüllen, mit Schnipseln, Zeitschriftenfitzeln und darüberkrikseln. Mit Wörtern spielen, Grommolo-Gespräche führen und im Geist beginnt eine Systemerneuerung. Der Rechtschreibreform verdanke ich bereits eine gewisse Radikalität. Damals habe ich etwas vom scheinbaren Ewigkeitswert dem Spielraum anvertraut. Auf einmal war es wurscht, weil es eh keinen Bestand hatte. Das Schreiben und die Sprache ist seitdem freier geworden. Im neuen Regelwerk bin ich nicht mehr sesshaft geworden, sondern eine Sprachnomadin geblieben.
Auch zwischen zwei Buchdeckeln gab es einmal eine fest gebundene Welt. Die Inhalte könnten längst überholt sein, die Lehrsätze angestaubt. Jetzt könnte man das, was man mit Büchern üblicherweise macht um eine Radikalentleerung erweitern. Das erste Mal beim Herausreißen des Buchblocks hat es in mir einen Ruck gegeben. Bücher zerfleddern, bemalen, ihrer Aufgabe entledigen – das erinnert an Schulsituationen, an all die Buchtabus und auch an die Lust, reinzuschmieren, Seiten einzureißen, Brennversuche zu starten und Ähnliches.
Es war immer geheim, tabu, lustvoll, ungehörig, weil es an was ganz Heiliges ging, an die Bücher und ihre Inhalte. Es ist nur der erste Schritt, das erste Zögern, dann kommt Lust auf, so richtig. Bücher in den Regen legen und abends das Ergebnis befühlen hat auch was. Kurz nach dem Herausreißen des Buchblocks entsteht für einen Moment ein Nullraum. Destabilisierung, Dekonstruktion gefällt der Närrin. Es ist ihr Raum. “Bloß nicht erstarren,” sagt sie. “Von untauglichen Regeln und Konventionen befreit, lassen sich die Mauern der sprachlichen Gewißheit erstürmen. Als Leitern eignen sich das Hinterfragen und Loslassen. In unseren Zeiten ist der Wohnraum auch für Geister knapper geworden. Da bieten sich Bücher an.“
Ich beobachte im Dorf der entleerten Bücher, wie die Geister das Dogma der Lesbarkeit anpinkeln. Sie tun es hemmungslos. Sie brechen Sätze auf wie Nüsse. Es wird eindeutig mehrdeutig. Die Lesbarkeit darf auf der Strecke bleiben und Leseunbequemlichkeiten dürfen sich auch einstellen. Die Geister richten sich im Buchstabenprovisorium gemütlich ein. Bei dem Sprachverfall merkt es eh kaum jemand.
Geisterbücher. Ein bisschen ist es wie mit den Geisterdörfern. Die alten Geschichten und Wörter sind längst ausgezogen. Wind weht durch die Straßen. Die Geister wohnen in den leeren Büchern. Sie spielen mit den Resten der Buchstaben. Die Poesie hat sich verändert. Die Gesänge in den Straßen sind fremdartig. Die Buchfassaden haben neue Beschriftungen bekommen. Manch eine Behausung ist frisch gestrichen und abbröckelnde Stellen sind übertüncht worden. Buchstabenreste sind verrückt. Alte Wörter werden zerkocht, manches bekommt eine neue Würze. Ein Ei ist gefunden worden, eine Geschichte schläft darin. Sie ist bald ausgebrütet.
Durch Geschichtenstraßen ziehen, Wortfelder betreten, Begegnungen, Spurensuche. Der rote Faden ist neonrosa. Die poetische Steckenführung ist verwirrend. Gut so. Mit Wirrwarr das verwirrte System verwirren.